oder
"Wenn Ihr nicht alle so langweilige Kerle wärt"
by Hartmut Haenchen
Im Zeitalter der Medien geht es im Allgemeinen
nicht mehr um die Darstellung des jeweiligen Werkes sondern um die
Selbstdarstellung der Dirigenten und Regisseure. Da von der Mehrzahl
der Medien bei der Vielzahl der Ereignisse nur noch die Extreme
beachtet werden,- es muß extrem jung oder alt, extrem schnell
oder langsam, extrem leise oder laut sein, extrem schön oder
häßlich - richtet sich eine überwältigende
Zahl der Interpreten an diese Anforderung der Zeit, um auf diese
Weise von diesen Medien beachtet zu werden.
Diese These zu beweisen, scheint nicht so einfach.
Am Beispiel der Temponahme läßt sie sich jedoch deutlich
nachweisen. Beim Studium der Aufführungstraditionen von Wagners
Werken fällt auf, daß etwa in den ersten 70 Jahren der
Existenz von Wagners Werken eine bestimmte Richtung der Temponahme
feststellbar war, die auf der Übertragung von einer Generation
zur anderen erfolgte und keine extreme Abweichungen aufweist. Diese
Weitergabe der auf Wagner zurückgehenden Tempi erfolgte ohne
Tonträger (und ohne Einfluß der Werbung der Tonträger-Industrie,
die ihre Produkte ohne Rücksicht auf die tatsächliche
Qualität vermarktet). Seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts
- zusammenfallend mit dem enorm wachsenden Einfluß der Medien-
beginnt sich eine Tendenz abzuzeichnen, die Extreme sucht, die nachweisbar
weit von Wagners ursprünglichen Ideen abweichen, denn wir können
nach allen historischen Dokumenten davon ausgehen, daß die
Aufführungszeiten (sprich: Tendenzen des Tempos) der Uraufführung
sicher in wesentlichen Aspekten Wagners Intentionen näher stehen,
als die späteren Extreme und eher zu langsam als zu schnell
waren. Die folgende Grafik macht deutlich, was damit gemeint ist.
Jahr
Dirigent
Rheingold
Walküre
Siegfried
Götterdämmerung
Gesamtzeit
1876
Richter
231
339
400
419
1429
1896
Mottl
232
348
356
414
1430
1896
S.
Wagner
221
344
353
415
1413
1904
Beidler
223
336
358
4`38
1435
1909
Balling
221
339
354
424
1418
1927
Von
Hoeßlin
222
351
349
409
1411
1930
Elmendorff
239
338
354
413
1424
1934
Tietjen
217
347
351
418
1413
1936
Furtwängler
236
338
358
414
1426
1951
Von
Karajan
225
336
353
420
1414
1951
Knappertsbusch
242
353
405
440
1520
1952
Keilberth
220
332
334
415
1341
1953
Krauss
224
332
357
420
1413
1953
Furtwängler
235
355
408
428
1506
1959-65
Solti
226
349
357
425
1437
1960
Kempe
232
341
354
418
1425
1964
Klobucar
229
337
357
418
1421
1965
Böhm
220
330
346
359
1335
1966-67
Böhm
216
329
342
407
1334
1966
Suitner
214
327
337
359
1317
1968
Maazel
221
332
336
404
1333
1976
Boulez
224
330
348
415
1357
1982
Janowski
219
339
352
409
1359
1983
Solti
223
341
347
421
1412
1984
Schneider
224
340
352
417
1413
1988
Barenboim
235
352
356
435
1458
1992
Haitink
229
352
349
418
1428
1994
Levine
237
359
421
439
1536
1998
Haenchen
221
341
340
4´03
13.45
CD-Aufnahmen:
kursiv
Natürlich ist Tempo von vielerlei Faktoren
abhängig, die hier im Einzelnen nicht dargelegt werden können.
Kein Dirigent ist in der Lage hundertprozentig Abend für Abend
das gleiche Tempo zu erreichen. Sicher nicht in einer Kunstform,
wie der Oper. Dabei handelt es sich aber um Abweichungen, die beim
Ring (nach den Bayreuther Aufzeichnungen) bei dem gleichen
Dirigenten in einer Serie maximal 14 Minuten (und das ist schon
extrem) im Gesamtwerk betragen. Auf der anderen Seite ist der Ring
geeignet, eine allgemeine Tendenz darzulegen, da es sich immerhin
um Musik handelt, die in ihren (bisherigen) Extremen eine Differenz
der Aufführungsdauern von 2 Stunden und 19 Minuten (!) ertragen
muß. Man muß sich aber bewußt sein, daß
es einige Tausend verschiedene Tempi im gesamten Zyklus gibt, die
wiederum durch Wagners proportionale Anweisungen verbunden sind,
aus denen sich eine Gesamtaufführungsdauer ergibt. Da aber
alle sehr schnellen Tempi durch spieltechnische Grenzen nicht (wesentlich)
schneller gespielt werden können, müssen sich Tempounterschiede
nur im mittleren und langsameren Tempobereich abspielen. Bekannt
ist, daß der Uraufführungsdirigent Hans Richter, der
nahezu alle Instrumente beherrschte, den Musikern in jedem Fall
nachweisen konnte, daß alles, was Wagner geschrieben hatte,
auch spielbar war. Und wenn es - wie für die Bayreuther Wiederaufnahme
des Ringes - mit 46 Orchesterproben erreicht wurde.
Wenn wir davon ausgehen, daß heute bestimmte
spieltechnische Probleme leichter zu bewältigen sind als zu
Wagners Zeit, ist der Unterschied zu Wagners Tempo-Ideen bei den
heute üblichen langsameren Aufführungen als noch größer
anzunehmen.
Wie immer können natürlich nur originale
Quellen Grundlage einer Beurteilung des "richtigen" Tempos sein.
In unserer Produktion in Amsterdam sind wir in
der Lage, erstmalig alle Aufzeichnungen der musikalischen Assistenten
von 1876 ( Porges , Levi, Mottl
und Kniese ) in die Interpretation wieder aufzunehmen. Auf der Grundlage
der originalen Aufführungsideen Wagners müßte die
Gesamttendenz bei der Aufführung seiner Werke also etwas schneller
sein, als bei der Uraufführung. An wenigen Beispielen ist deutlich
zu machen, worum es Wagner ging.
Wagner, der als Autor Regie führte und selbstverständlich
auch die musikalische Oberleitung hatte, brauchte Dirigenten, die
fähig und bereit waren, vorbehaltlos auf seine Vorstellungen
einzugehen und sie zu realisieren.
So sind auch die Probenbemerkungen Wagners von
1876 zu verstehen.
Für Walküre und Siegfried
- um zwei allgemeingültige Vorbilder herauszugreifen - sind zusammen 715 Bemerkungen überliefert.
Das erstaunliche ist, daß davon 208 Anweisungen sind, die
schnellere Tempi verlangen, als sie vom Uraufführungsdirigenten
Hans Richter in den Proben realisiert wurden. Das sind immerhin
30% aller überlieferten Bemerkungen. Dagegen stehen nur 135
Anweisungen, die sich auf Verzögerungen beziehen, 101 auf Dynamik
und 206 auf Ausdruck und Artikulation. Auffallend ist, daß
Wagner allein für diese zwei Opern 36 mal die Anweisung gibt:
"Nicht schleppen" und immerhin 17 mal : "Ohne Sentimentalität".
Es ist hier nicht der Raum um alle Anweisungen zu analysieren, aber
selbst Anweisungen, die eigentlich eine Verlangsamung umschreiben
und auch in dieser Kategorie mitgezählt wurden, beinhalten
gegenüber der heutigen Praxis eine Beschleunigung. An zwei
Beispielen möchte ich das deutlich machen: Im ersten Akt von
Siegfried bei Mimes Text "Nun tobst du wieder wie toll" schreibt
Wagner in der Partitur erst "Sehr allmählich immer etwas langsamer"
und einige Takte später "Sehr mäßig und immer noch
langsamer" um kurz danach ein neues durch die Verlangsamung erreichtes
Tempo mit "Andante" anzugeben. Offensichtlich führte das schon
zu Zeiten der Uraufführung zum zu langsamen falschen Tempo.
Dazu bemerkte Wagner: "Alle Tempomodifikationen genau beachten,
jedoch in langsamen Stellen nie soweit gehen, daß das Gefühl
verweilender Ruhe sich erzeuge." Zum Beginn des zweiten Aktes von
Siegfried gibt es in der Partitur eine Tempoanweisung "Träg
und schleppend" und es wird im Wesentlichen von dem "Riesenmotiv"
und dem "Hortmotiv" als musikalischer Ausdruck des auf dem Hort
schlafenden Riesenwurms Fafner beherrscht. In neueren Interpretationen
wird dieser Anfang außerordentlich langsam genommen. Wagner
umschreibt aber in seinen Probenanweisungen von 1876 sehr genau,
was er darunter versteht: "Das träg und schleppend kommt durch
ein geringes Zurückhalten beim 2. und 4. Viertel des Riesenmotivs
am Besten zum Ausdruck, in den Zwischentakten wieder vorwärts
im Tempo." Im dritten Akt, beim "Vaterfreude-Motiv" welches er in
der Partitur mit "sehr mäßig" bezeichnet, bemerkt er:
"Diese ersten Achtel immer etwas gehalten, dann weiter fließender.."
Die genannten Beispiele und die große Anzahl der Anweisungen
für die Textartikulation und für den Ausdruck machen deutlich,
daß Wagner dem Sprachrhythmus und der sprachlichen Verständlichkeit
mit seinen Tempi folgte und somit jede Form der Zerdehnung und falscher
Sentimentalität entgegenwirkte. Porges
schreibt in seinem Bericht über die Uraufführung von 1876
(Rheingold,S.15): "Den richtigen Eindruck werden ... diese dialogischen
Stellen nur dann hervorbringen, wenn das Tempo, in dem sie ausgeführt
werden, im Wesentlichen dasselbe ist, wie das der gesprochenen Rede."
Deutlicher kann es nicht gesagt werden. An anderer Stelle (S.14)
verweist Porges auch auf das Verhältnis der Dynamik zwischen
Sänger und Orchester, was letztlich nicht nur dynamische Folgen
sondern auch Tempokonsequenzen hat: "Bei den Proben des Nibelungenringes
stellte es sich nämlich als eine Nothwendigkeit heraus, an
vielen Stellen die dynamischen Bezeichnungen der Tonstärke
zu ermässigen, öfter an die Stelle eines fortissimo ein
forte, an die Stelle eines forte ein mezzo forte u.s.w. zu setzen.
Dies geschah aus dem Grunde, um vor allem Wort und Ton des Sängers
zu deutlichem Vernehmen gelangen zu lassen; denn wir sollen eben
keinen Moment vergessen, dass wir einer dramatischen Aufführung,
die durch die überzeugende Gegenwärtigkeit einer dem wirklichen
Leben nachgebildeten Handlung zu wirken hat, beiwohnen, und nicht
etwa ein Werk der rein symphonischen Kunst aufzunehmen haben. Für
den Vortrag jener symphonischen Sätze, bei denen gleichzeitig
der Darsteller durch das gesungene Wort wirken soll, gilt daher
die Vorschrift, dass bei ihnen die Kraft der Tongebung nie den äußersten
Grad erreichen darf." Die Erfahrung mit Sängern des "schweren"
Faches zeigt aber, daß je größer der Ton, desto
langsamer das Tempo wird. Wagner wollte hier offensichtlich bewußt
dagegen angehen. Porges fährt fort: "Dieses Verhältnis
der Tonstärke des Orchesters zum Sänger kam im Verlaufe
der Proben öfter zur Sprache, und der Meister bediente sich
wiederholt und mit Vorliebe des Vergleichs, dass das Orchester den
Sänger stets so tragen solle, wie die bewegte See einen Nachen,
diesen aber nie in die Gefahr des Umschlagens bringen oder gar verschlingen
dürfe. Die Beachtung dieser Vorschrift darf aber die Spieler
ebensowenig dazu verleiten, in eine weichliche oder gar gleichgültige
Vortragsweise zu verfallen, sondern sie müssen vielmehr mit
angespanntester Aufmerksamkeit darauf bedacht sein, durch besonders
deutliche Phrasierung der Perioden und äußerste Bestimmtheit
in der Ausführung der metrischen und rhythmischen Akzent, die
plastischen Umrisse ihrer Melodien- und Themenkomplexe in aller
Prägnanz hervortreten zu lassen." Wenn das schon für die
das Orchester dämpfende akustische Situation in Bayreuth galt,
um wieviel mehr, ist es für andere Opernhäuser gültig!
Interessant ist, mit dieser Erkenntnis und dem Wissen um Wagners
originale Anmerkungen (die bisher in keiner Partitur standen), die
Aufführungstraditionen zu verfolgen. Das sind auf der einen
Seite die überlieferten Aufführungszeiten, die natürlich
nur Tendenzen wiedergeben können. Deutlicher wird es bei den
überlieferten Aufnahmen. Da wird meine These durch noch vorhandene
Tonträger bestätigt.
Der von HMV aufgenommene "Potted" Ring (1927-32)
mit den Dirigenten L. Collingwood, L. Blech, A. Coates, J. Barbirolli,
R. Heger, K. Alwin, K. Muck macht deutlich, daß Wagners Anweisungen
fortlebten und jeder Dirigent auf seine Weise versuchte, sich den
Intentionen Wagners so weit wie möglich zu nähern. Diese
sind auf diesen Aufnahmen mit unterschiedlichen musikalischen Handschriften
in flüssigen Tempi und brillanter Textbehandlung noch immer
zu hören. Die Aufnahmen entsprechen dem in der obigen Grafik
dargestellten Sachverhalt, daß in den ersten 70 Jahren der
Aufführungspraxis noch eine auf Wagner selbst basierende "Aufführungs-Tradition"
bestand. Diese wurde durch zwei Faktoren unterbrochen: Das Abbrechen
der direkten Aufführungstradition und das Aufkommen des Faschismus
und der zeitgleich aufkommende Einfluß der Medien.
Der Bruch der direkten Tradition entstand nach
dem Tode von Siegfried Wagner und Cosima (1930) und dem Aussterben
der ersten und zweiten Generation der Dirigenten. Siegfried Wagner
hatte versäumt, eine Nachfolge generativ aufzubauen. Keiner
der späteren Dirigenten außer Kaehler war Assistent bei
den Festspielen gewesen. Es ist verständlich, daß von
hier an die mündlich und verstreut schriftlich vorhandenen
auf Wagner selbst zurückgehenden Aufführungsdetails in
den nächsten Jahren verschwinden. Die Aufführungen von
Dirigenten, die der deutschen Sprache nicht in vollem Umfang mächtig
waren, brachten zusätzlich Verwirrung in die Aufführungspraxis,
da musikalische Anweisungen wie zum Beispiel "sehr gehalten" plötzlich
als Tempoanweisung und nicht als Artikulationsanweisung verstanden
wurden. Neben Toscanini, welcher zur genannten Kategorie gehörte
und einer der langsamsten Wagner-Dirigenten überhaupt war,
stand die nächste große Wagner-Dirigenten-Persönlichkeit:
W. Furtwängler.
Er hat im Gegensatz zum "Bayreuther Stil" die Gleichberechtigung
von Text, Theater und Musik abgelehnt und deutlich den Primat der
Musik gegeben: "Das "Ganze" der Oper, ihre Struktur, und ihr Sinn,
wird aber durch die Musik bestimmt, der daher auch der Primat innerhalb
der Oper zufällt."
Das offensichtlich die faschistische Zeit nicht
nur Wagners Werk ideologisch mißbraucht hat, sondern dieses
auch zu sentimentalen, pathetischen und damit langsameren Aufführungen
geführt hat, läßt sich an Hand der Bayreuther Aufführungszeiten
leider nicht restlos beweisen, da die dafür relevanten Zeiten
nicht (vollständig genug) überliefert sind.
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist jedoch,
daß Furtwänglers Interpretation seit seinem erstem Ring
von 1936, der in etwa noch den Uraufführungszeiten entsprach,
bis zu seiner Aufnahme vom Jahre 1953 um 40 Minuten (!) langsamer
geworden ist. Die Aufnahme zeigt auch deutlich, daß die überlieferten
Anweisungen von Wagner nahezu keine Berücksichtigung mehr fanden
und in vielen Fällen den nun wieder zusammengetragenen Anmerkungen
Wagners geradezu diametral gegenüber standen.
Daß Furtwängler für viele nachfolgende
Dirigenten prägend war, steht natürlich außer Zweifel.
Und die Mehrzahl der späteren Schallplatten-Einspielungen und
Aufführungen ist langsamer als die Uraufführung oder als
die Tempi der ersten 70 Jahre nach der Entstehung. Die Abweichung
zum langsamsten Ring von der Uraufführung beträgt 1 Stunde
7 Minuten, die Abweichung des schnellsten Ringes beträgt zur
Uraufführung 1 Stunde 12 Minuten. Dabei muß man vor Augen
haben, daß für Wagners Wünsche die Uraufführung
- vor allem von Siegfried - schon zu langsam war, der Unterschied
der heutigen langsameren Aufführungen zu Wagners Vorstellung
also noch größer war.
Daneben gab es aber eine andere Traditions-Linie,
die durchaus noch etwas vom ursprünglichen Bayreuther Stil
bewahrt hat: Richard Strauss, der 1898 in Bayreuth assistierte,
fiel - was die Tempi der Aufführungen seiner eigenen Werke
durch andere anlangte - ein ähnliches Schicksal zu , wie Richard
Wagner. (Man vergleiche nur die Aufnahmen unter seiner Leitung mit
neueren Aufnahmen, die fast ausnahmslos langsamer sind). Er hat
Felix Mottl (Assistent des ersten Ringes und Dirigent des Ringes
von 1896) aufs Tiefste verehrt. Obwohl Mottl wegen seiner "langsamen"
Tempi oft kritisiert wurde (er brauchte 1 Minute (!) für den
gesamten Ring länger als Richter), können wir davon ausgehen,
daß die Tempi noch sehr nahe bei Wagners Intentionen waren.
Cosima schrieb, daß "Mottl ein ausgesprochener Bühnendirigent
war, der den Zusammenhang zwischen Szene und Orchester meisterlich
zu wahren wußte." Er gehorchte damit einer zentralen Forderung
des Bayreuther Stils. Strauss fühlte sich als direkter Nachfolger
von Mottl und hat seinerseits wieder Nachfolger wie Clemens Krauss
und Karl Böhm gefunden, die alle etwas unter den Uraufführungszeiten
bleiben.
Richard Strauss hat einmal gesagt: "Nicht ich bin
im Parsifal schneller, sondern ihr in Bayreuth seid immer
langsamer geworden. Glaubt mir, es ist wirklich falsch, was ihr
in Bayreuth macht."
Auch Gustav Mahler hat sich dahingehend geäußert.
Schließlich gibt es noch die Besonderheit
des "unsichtbaren" Orchesters, in welchem durch die besonders tiefe
Aufstellung des Orchesters unter der Bühne der direkte Kontakt
der einzelnen Musiker zur Bühne unmöglich ist, weswegen
eine allgemeine Tendenz zu langsamen Tempi in Bayreuth zu bemerken
ist, die Wieland Wagner treffend umschreibt:
"Daher kommt zu einem großen Teil auch das
Schleppen hier in Bayreuth. Der eine wartet mehr oder weniger unbewußt
auf den anderen und entschließt sich erst dann weiterzugehen,
wenn er ihn zu hören meint." Es ist allgemein bekannt, daß
die besondere und viel gelobte Akustik von Bayreuth eigentlich nur
wirklich im Parsifal voll funktionsfähig ist. In den
frühen Stücken, die für andere Bühnen komponiert
wurden und auch im Ring der von viel dichteren Strukturen
lebt, als Parsifal, vor allem auch in Meistersinger
ist man sich bewußt, daß die Bayreuther Akustik durchaus
nicht das Ideal ist, da sie die Kontrapunktik dieser Werke verwischt.
Aus Bemerkungen und Aufzeichnungen kann man vermuten, daß
Wagner selbst möglicherweise Veränderungen wieder angebracht
hätte, wenn er 1896 den Ring hätte noch einmal selbst
realisieren können. So aber ist die Orchesteraufstellung in
Bayreuth als "heilig" erklärt worden und H. von Karajan bekam
große Schwierigkeiten, als er versuchen wollte, etwas zu verändern.
Auch ein Beispiel, wie Tradition erstarren kann. Inzwischen aufgefundene
Dokumente beweisen, daß in den Jahren bis zum Tode Siegfried
Wagners durchaus mit der Akustik und der Orchesteraufstellung experimentiert
wurde.
Schließlich sei darauf hingewiesen, daß
die überwiegende Verlangsamung der Tempi bei anderen Werken
Wagners ebenso, oder sogar noch stärker ausgeprägt war,
wie zum Beispiel bei Parsifal, der nur wenige schnelle Tempi
beinhaltet, die - wie oben dargestellt - sich weitgehend "temponeutral"
verhalten: Die Uraufführung 1882 unter H. Levi dauerte 4/04,
1888 unter F. Mottl 4/15, 1897 unter A. Seidl 4/19, 1901 unter Karl
Muck 4/27, 1909 unter S. Wagner gab es eine kleine Korrektur dieser
Tendenz mit 4/22, 1931 unter A. Toscanini einen Rekord von 4/42
(38 Minuten langsamer als die UA), der nach dem Einfluß von
C. Krauss 1953 eine umgekehrte Tendenz folgte (3/44), der aber mit
J. Levine 1990 wieder das andere Extrem mit 4/33 folgte. Erstaunlich
ist, daß innerhalb einer Oper Tempo-Unterschiede von nahezu
einer Stunde denkbar sind. Vergleicht man das mit dem ganzen Ring,
bei dem die Unterschiede "nur" knapp eindreiviertel Stunden (gerechnet
auf ca. 14 Stunden Musik) betragen, so sind die Extreme bei einer
Berechnung auf 4 Stunden Musik wirklich extrem, sind aber eine deutliche
Unterstützung meiner dargelegten Ansichten über die Gründe
der Verlangsamung.
Wenige Detail-Vergleiche machen die Tendenz zur
Verlangsamung von Wagners Musik noch deutlicher als die Gesamtzeiten:
Die erste Aufnahme vom "Meistersinger"-Vorspiel (1905) mit Myrte
Elvyn dauert nur 7´55 Min. R. Strauss nahm sich 1944 9.25 Min
und Bruno Walter 1959 10´10 Min. 1905 brauchte E. Paur bei
seiner Einspielung von "Siegfrieds Tod" auf dem Welte-Mignon-Flügel
8´32 Min. A. Toscanini nimmt für das gleiche Stück
nahezu das halbe Tempo und braucht 13´57 Min. Olga Samaroff
spielte 1905 den "Walkürenritt" (Konzertfassung) in 3´45
Min. Dazu brauchen W. Furtwängler 4´30 und A. Toscanini
5´25 Min.
Gehen wir aber zurück zu den Quellen: In einem
Brief vor dem ersten Bayreuther Ring 1876 schrieb Wagner an seinen
Uraufführungsdirigenten Hans Richter: "Freund! Es ist unerläßlich,
daß Sie den Klavierproben genau beiwohnen, Sie lernen sonst
mein Tempo nicht kennen, und dann ist es mehr als beschwerlich,
in den Orchesterproben, wo ich mich doch nicht gern erst mit Ihnen
über das Tempo verständige, zum Schaden des Ganzen dies
nachzuholen. Gestern kamen wir, besonders bei Betz (dem Sänger
des Wotan), den ich am Klavier immer im feurigsten Tempo habe singen
lassen, aus dem Schleppen nicht heraus. ... Ich glaube wirklich
auch, Sie halten sich durchgängig zu sehr am Viertelschlagen,
was immer den Schwung eines Tempos hindert, namentlich bei langen
Noten, wie sie in Wotans Zorn häufig vorkommen. Man schlage
meinetwegen selbst die Achtel aus, wo der Präzision dadurch
genützt wird: nur wird man nie ein lebensvolles Allegro durchgängig
durch Viertel im Charakter erhalten." An anderer Stelle schreibt
er: "Es war nur in diesen Augenblicken so demüthigend, zu gestehen,
was mich so verzweiflungsvoll erregte, und hiermit zu erklären,
daß es mein Entsetzen darüber sei, wahrzunehmen, wie
mein Kapellmeister, trotzdem ich ihn für den Besten halte,
den ich noch kenne, das richtige Zeitmaß - öfters schon
geglückt - doch nicht festzuhalten vermochte, weil - ja! weil
er eben unfähig war zu wissen, warum es so und nicht anders
aufgefaßt werden müsse." Cosima schreibt in ihrem Tagebuch
am 20.11.1878: "Richard ruft wiederum aus:
"Nicht einen Menschen hinterlasse ich, welcher
mein Tempo kennt."
Auch aus diesen Briefstellen wird deutlich, daß
es ihm vor allem darum ging, daß die Tempi nicht zu langsam
werden und er sogar Anweisungen gab, wie man bestimmte Stellen dirigiertechnisch
lösen sollte. Das gleiche bestätigt der treue Helfer und
Assistent bei den Proben zur Uraufführung H.Porges (siehe Zeitgenossen).
Er hielt in seinen Aufzeichnungen (S.31) fest: "Nirgends durfte
ein unmotivirtes, nicht durch die eigenthümliche Natur der
Situation gebotene Zögern oder verweilen stattfinden" und kurz
darauf berichtet er über Wagner, "dass er jeder blos individuellen
Willkür, und äusserste sich diese auch auf geniale Weise,
abhold ist." In der Beschreibung der Proben zu "Walküre" schreibt
er über die Szene zwischen Wotan und Fricka: "In dem ganzen,
an fesselndem Detail überreichen Dialoge erneute er eine
oft gethane Mahnung, keine Zögerung im Tempoeintreten
zu lassen, zu welcher Sänger und Spieler gerade bei gemüthstiefen
Stellen so leicht hinneigen."Auch an bei einem seiner Besuche in
Venedig äußerte er sich über das Tempo:" Nun hörte
ich abends von ihm (dem Kapellmeister H.H.) den Tannhäusermarsch,
und mich ärgerte das schleppende Tempo; da liess ich ihm sagen,
wenn er wieder was von mir machte, sollte er mir´s doch sagen,
damit ich ihm das richtige Tempo usw. weisen könnte."
Was ich oben als "Bayreuther Stil" gekennzeichnet
habe, wird auch aus einem Brief an den Theaterdirektor Angelo Neuman
deutlich, wo er seinen "Schüler" Seidl überschwenglich
rühmte: "Keiner von allen Dirigenten kennt meine Tempi und
die Übereinstimmung der Musik mit der Aktion. Seidl habe ich
unterrichtet."
Am eindrucksvollsten sind zwei etwas überspitzte
Proben - Bemerkungen Richard Wagners im Jahre 1876, die innerhalb
der Untersuchungen für die Quellen zur Aufführungspraxis
wieder ans Tageslicht getreten sind:
"Wenn Ihr nicht alle so langweilige Kerle wärt,
müßte das Rheingold in zwei Stunden fertig sein."
Und "Stimmung ist gar nichts. Die Hauptsache ist und bleibt Kenntnis."